Auf dem bürgermeisterlichen Dienstcomputer im Grafinger Rathaus ist seit dem 1. Mai eine neue Excel-Tabelle eingerichtet. Gleich am ersten Tag habe er sie angelegt, erzählt mit Christian Bauer (CSU) der neue Bürgermeister der Stadt. Als eine Art To-do-Liste müsse man sie sich vorstellen. "Einfach, um den Überblick zu behalten." 100 Tage später ist auch das nicht mehr so leicht. Auf 300 Zeilen sei die Liste mittlerweile angewachsen. Hier drüben ein abzusenkender Bordstein. Dort hinten ein aufzufüllendes Schlagloch und eine neue Tempo-30-Zone. Oder die Verkehrsberuhigung des Marktplatzes.
Überhaupt, der Marktplatz. "Wenn wir die Stadt attraktiv halten wollen, müssen wir den Marktplatz attraktiv halten", formuliert Bauer die Maßgabe. Neue Blumen wachsen ein paar Wochen. Ein Marktplatz wächst in Jahrzehnten. Und an ihm prallen Interessen aufeinander.
In Grafing waren das in den vergangenen Jahren auf der einen Seite einige lautstarke Einzelhändler. Sie kämpften um jeden Parkplatz, notfalls auch auf Kosten des Weihnachtsmarkts. Gegenüber stand ein umweltaffines Klientel aus der grün-roten Ecke. Es würde Autos am liebsten komplett aus dem Zentrum verbannen. Die einen argumentieren, ohne die unmittelbare Zufahrt könnten sie ihre Geschäfte schließen. Die anderen stellen dagegen, dass sich ohne Autos noch viel mehr Kundschaft auf dem Marktplatz versammeln und in den Geschäften konsumieren würde.
Auf welcher Seite stehen Sie, Herr Bauer? Bauer, Vater dreier erwachsener Kinder, schiebt sein Fahrrad zur Seite. Allmorgendlich radelt er darauf aus dem Grafinger Norden gen Rathaus. "Ich glaube, dass beide irgendwo recht haben", wählt er die diplomatische Antwort.
Für bewegungseingeschränkte Grafinger seien Parkplätze direkt im Zentrum alternativlos. Das sei für ihn gesetzt. Für alle anderen hätte die Stadt in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe an zentrumsnahen Auffangparkplätzen geschaffen. In der Pfarrer-Klug-Straße. Oberirdisch hinterm alten Schulhaus in der Rotter Straße. Schräg darunter in der neue Tiefgarage unterm alten Brauereigelände. Auch unter der Lagerhausstraße gibt es städtische Parkplätze. Bauer ist bereit, deren Nutzung auch öffentlich einzufordern. Wenn es sein muss, auch gegen Widerstände.
Dass sich gerade auch in den engen Zentren oberbayrischer Kleinstädte der Fokus weg vom Auto und hin zum Fahrrad verschiebt, ist in Bauers Perspektive unstrittig. "Im Grunde laufen die städtischen Planungen doch schon seit vielen Jahren darauf hinaus."
Die Ostumfahrung: fertig. Die "Nettelkofener Spange" über die EBE8: fertig. Die neue Gartenstraße als innerörtliche Marktplatzumfahrung von der Glonner Straße in die Bahnhofsstraße: in der Planung. "Wir sind jetzt langsam an einem Punkt, an dem wir bei der Neugestaltung vom Marktplatz konkreter werden können", sagt der ehemalige Kämmerer.
Die Nachbarschaft ist das bereits. "Vor kurzem hat der Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts vorgeschlagen, auf der Marktplatzinsel eine Modenschau zu veranstalten." Ja, warum denn nicht?
Dass sich vor 100 Tagen auch ein neuer Grafinger Stadtrat konstituierte, betrachtet der Bürgermeister dabei als klaren Vorteil. Welcher Zeitpunkt, wenn nicht der Anfang einer Wahlperiode, böte sich für eine Weichenstellung um die Zukunft des Marktplatzes besser an? Jetzt, wo nicht jeder gleich wieder ängstlich das Nahen der nächsten Wahl verfolgt.
Natürlich, Baustellen gibt es im Wortsinne genügend in der Stadt. Der Ausbau vom Seniorenhaus und die angedachte Minimalsanierung der Stadthalle sind zwei prominente Beispiele hierfür.
Doch dass sich im politischen Grafing derzeit vieles auf den Marktplatz fokussiert, ist kein Zufall. All die Wahlversprechen sind ja seit dem Einbruch bei Einkommen- und Gewerbesteuer ohnehin nicht mehr diskutierbar. Sprich: Die 15 Millionen Euro für die neue "Rotter Straße 8", die vier Millionen Euro für die Gewerbeflächenentwicklung oder die zwei Millionen Euro für die Straußdorfer Dorferneuerung. Investitionen in die Marktplatzerneuerung, so scheint es, sind dagegen so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner im Stadtrat. Und eine Mehrheit stellt dort keines der politischen Lager.
Überhaupt, die Lager. "Die sind nichts, was mich besonders beschäftigt", sagt Bauer. Obwohl dieser ein Grüner ist, verstehe er sich mit dem Zweitem Bürgermeister Johannes Oswald prächtig. "Da hab' ich echt ein gutes Gefühl." Oswald wiederum sagt sinngemäß das gleiche über den Christsozialen Bauer. Die beiden eint, dass es mit der schwarz-grünen Offenheit keiner im eigenen Lager ganz einfach hat.
Dass einer Leserbriefe gegen den anderen schreibt, wie etwa in der vorigen Wahlperiode Zweiter Bürgermeister Josef Rothmoser (CSU) gegen Erste Bürgermeisterin Angelika Obermayr (Grüne), gilt unter dem Trio aus Bauer, Oswald und Dritter Bürgermeisterin Regina Offenwanger (SPD) jedenfalls als undenkbar.
Dazu dürfte auch Bauers Unkompliziertheit, die ihm allen voran sein CSU-Ortsverband gerne attestiert, ihren Teil beitragen. Doch das Image kommt nicht von ungefähr. So gehört Bauer zu den durchaus wenigen Bürgermeistern, die ihre Handynummer offen ins Internet stellen. Und dann natürlich auch kein Problem haben, wenn jemand am Wochenende mal wegen eines Anliegens durchruft.
"Dass derart viel Rückmeldung kommt, das hat mich schon überrascht", blickt Bauer auf seine drei ersten Monate im Grafinger Rathauschefzimmer zurück. Andererseits: Wenn sich Leute für ihr Umfeld interessierten, dann sei das ja positiv. So gesehen darf die Excel-Tabelle also gern noch ein bisschen länger werden.
August 26, 2020 at 02:29AM
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